Fragmente - Fliegen, Dosen, Krieg und imaginäre Gipfel
Für Giancarlo Lamonaca gibt es keine absoluten Gewissheiten. Er führt Objekte, Realitäten und Zustände in unterschiedlichsten Kombinationen zusammen, sodass sich daraus schier unendliche Konstellationen an Möglichkeiten ergeben. Und so erahnen wir auf seinen mit „Fliegen“ betitelten Arbeiten im ersten Moment zwar keine Insekten, aber die Basis sind tatsächlich Fotos bunter Fischerfliegen. Im ersten Moment haben mich die leuchtenden Farben und der warme goldige Unterton an byzantinische Mosaike erinnert oder an kostbaren Brokatstoff, denn wer denkt bei diesem Anblick schon an Forellen, die dank dieser Köder aus dem Wasser gezogen werden. Was wir sehen ist das Ergebnis zahlreicher Überlagerungen, Spiegelungen und Verknüpfungen, die die ursprünglichen Aufnahmen dermaßen verfremden, dass am Ende fast nichts mehr davon übrig bleibt.
Den Arbeiten liegt ein Bruch zugrunde, zwischen dem was wir sehen, und dem, was eigentlich abgebildet ist. Aber auch zwischen der ästhetischen Wirkung und dem realen Hintergrund. So bringen uns die Fischerfliegen zu ökologischen Themen wie die Überfischung und die Strapazen der Weltmeere, genauso wie die Werke mit den Plastikflaschen und Alu-Dosen einen Verweis auf unsere Wegwerfgesellschaft darstellen, auf unser ressourcenfressendes Verhalten und die Müllberge, die wir tagtäglich produzieren. Es ist eine Flut an Eindrücken, die hier zum Tragen kommt. Dabei muss man bedenken, dass diese quietschbunten Kompositionen genau das verkörpern, was die Archäologie der Zukunft am ehesten mit unserem Zeitgeist in Verbindung bringen wird. Ornamental, psychedelisch und in Anlehnung an die Tintenflecke des Schweizer Psychologen Hermann Rorschach, erleben wir in diesen Werken eine hochgradig ästhetisierte Gratwanderung zwischen Wirkung und Inhalt. Es will eine Provokation sein, ein Ansporn, um den eigenen Erfahrungshorizont weiterzudenken.
Was wir dabei sicherlich nicht tun sollten, ist irgendeinen Aspekt unserer aktuellen Lebenssituation als gegeben zu betrachten, in einer verwöhnten westlichen Welt, in der das Wort Frieden mittlerweile nur noch halbherzig in den Mund genommen wird. Begriffe wie Glasfasernetz, Cat Content oder Follower bewegen aktuell die Gemüter, und dabei wägen wir uns in der gefährlichen Gewissheit, dass uns nichts und niemand diese Standards streitig machen kann. Auf genau diesen Trugschluss bezieht sich das Werk „Oppela“, was nichts anderes als die verkehrte Schreibweise von Aleppo ist. Die Arbeit besteht aus vielen fragmentierten Einzelstücken von Fotografien dieser im Syrienkrieg zerbombten Stadt. Der Künstler hat die Bilder im Netz ausfindig gemacht und zahlreiche Arbeitsschritte später erscheinen sie wie abstrakte Malerei in gedeckten Erdtönen. Dabei handelt es sich eigentlich um ein Sinnbild der Zerstörung, um eine Stadt, ein ganzes Land und eine ehemalige Hochkultur, die binnen weniger Jahre dem Erdboden gleichgemacht worden ist. Nichts ist sicher, alles kann passieren – dort, hier und auch anderswo, denn Aleppo könnte überall sein.
All diesen Arbeiten ist gemein, dass es sich um hochauflösende Bilder handelt, die auch bei genauerer Betrachtung ihre Konturen wahren und nicht in tausend Pixel zerfallen. Das war dem Künstler ein besonderes Anliegen, denn er sucht in der Wechselwirkung zwischen Nah und Fern, zwischen dem Großformat und dem Detail nicht das pointillistische Kommen und Gehen von Punkten und Flächen, sondern will die Zerstückelung des Ganzen darstellen. Je näher wir einem Werk kommen, umso genauer erkennen wir darin unzählige weitere Ebenen. Wie ein Mikrokosmos nach dem anderen erblickt das Auge bekannte Anhaltspunkte inmitten einer unklaren Dimension.
Keine Antworten, sondern Indizien will der Künstler liefern, keine Abbildungen der Wirklichkeit, sondern Re- Konstruktionen mittels Fotografie. Mit dieser Bezeichnung lässt sich am ehesten die Bildserie mit dem Titel „Der Analog“ beschreiben, inspiriert am Roman „Der Berg Analog“ von René Daumal. Dabei verweist der Begriff „Analog“ auf die Analogie zwischen dem Berg und der Vorstellung des Göttlichen, er fungiert praktisch als Bindeglied zwischen Himmel und Erde, Mensch und Gott. Dass diese gläsernen Felsformationen vollkommen losgelöst von unseren weltlichen Vorstellungen zu betrachten sind, wird auch durch die Farbwahl deutlich. Die Palette beschränkt sich auf Schwarz und Weiß.
In der Realität ist nur eines gewiss, und zwar, dass sie stets realitätsfern bleiben wird. Unerreichbar und doch so nah, können wir nur eine annähernde Vorstellung von dem erlangen, was in der Welt möglich ist. Und Giancarlo Lamonaca trägt mit seinen Arbeiten dazu bei, dass wir diesbezüglich ein bisschen mehr um die sprichwörtliche Ecke denken, als wir es normalerweise tun.
Adina Guarnieri